Offener Brief an den Landesverband Berlin und und den Bundesvorstand von Bündnis 90/Die Grünen

Adieu!

Liebe Franziska, lieber Felix, hallo Lavo-Berlin,

mit gerade einmal fünf Jahren kam ich 1973 mit meiner Mutter nach Berlin. Wir fanden ein Zuhause im links-alternativen Milieu Kreuzbergs. Meine Kindheit war geprägt von der Berliner Mauer, Kahlschlagsanierung, besetzten Häusern und dem Engagement jener, die meine Eltern respektvoll „Hippies“ nannten – linke Studierende, Hausbesetzer*innen und Aktivist*innen, die für gleiche Rechte und bessere Lebensbedingungen für Menschen wie uns kämpften. Diese Erfahrungen prägten mich zutiefst und führten dazu, dass ich nach einem rassistischen Vorfall an meiner Fachhochschule 1990 voller Überzeugung Mitglied bei den damaligen Grüne/AL wurde.

So begann mein Weg bei Bündnis 90/Die Grünen. 1992 wurde ich Mitglied der BVV Kreuzberg, 1999 gewann ich eines der ersten Direktmandate für die Grünen für das Berliner Abgeordnetenhaus und wurde Bildungspolitischer Sprecher. Jahrelang habe ich als Realpolitiker, trotzt des links-dogmatischen Grünen Kreisverbands Friedrichshain-Kreuzberg, dem ich als Mitglied angehörte, für bessere Bildung und Integration gekämpft – auch gegen Widerstände. 2010 überzeugte ich aus der Opposition heraus die SPD-Linke-Koalition, die Hauptschulen in Berlin abzuschaffen – eine Schulform, die ganze Generationen von Gastarbeiterkindern wie mich ihrer Zukunftschancen beraubte. Später, als Bundestagsabgeordneter, setzte ich mich konsequent für Bildungsgerechtigkeit, Inklusion und Menschenrechte ein. Als Bundestagsabgeordneter war ich auch unzählige Male als Prozess -und Wahlbeobachter in der Türkei und habe mich stets für Menschenrechte und Demokratie in meinem Herkunftsland eingesetzt. 

Aber jetzt ist genug!

Das, was Stefan Gelbhaar widerfahren ist, kenne ich aus eigener Erfahrung nur allzu gut. Die aktuellen Vorfälle sind kein isolierter Einzelfall, sondern Ausdruck eines tief verwurzelten strukturellen Problems im grünen Landesverband Berlin. Für eine Partei, die sich sonst moralisch über andere erhebt, ist es geradezu heuchlerisch und beschämend, einen Abgeordneten mit falschen Anschuldigungen derart skrupellos kaltzustellen.

Die aktuellen Geschehnisse rund um die Vorwürfe gegen Stefan sind ein erschreckendes Beispiel für die toxischen Machtstrukturen bei den Berliner Grünen. Stefan Gelbhaar wurde aufgrund einer haltlosen und offensichtlich falschen Anschuldigung sexueller Belästigung nicht nur öffentlich diffamiert, sondern politisch vernichtet. Dieses perfide Vorgehen zeigt nicht nur menschliche Abgründe, sondern legt ein tiefgreifendes strukturelles Problem offen: Für manche Funktionäre zählt der Machterhalt und die eigene Karriere offenbar mehr als Integrität, Gerechtigkeit oder Anstand.

Der Ablauf dieser Kampagnen folgt stets dem gleichen Muster. Es werden haltlose und strategisch platzierte Anschuldigungen erhoben, die auf den ersten Blick schwerwiegend erscheinen, tatsächlich jedoch jeglicher Substanz entbehren. Vorwürfe werden gezielt verbreitet, um maximalen Schaden anzurichten. Gleichzeitig wird die öffentliche und innerparteiliche Debatte so gelenkt, dass die beschuldigte Person nicht nur moralisch vorverurteilt wird, sondern kaum eine Chance hat, sich angemessen zu verteidigen. Die Dynamik der Anschuldigungen beraubt die Betroffenen fast vollständig ihrer Handlungsfähigkeit. So erging es Stefan Gelbhaar und mir, aber auch Tanja Prinz, um einige Beispiele zu nennen.

Auffällig ist, dass dieselben innerparteilichen Kreise und Personen regelmäßig von der gezielten Diffamierung und politischen Ausschaltung unliebsamer Kandidat*innen profitieren. Dieses Vorgehen dient nicht dem Gemeinwohl, sondern offenbart ein tiefgreifendes strukturelles Problem innerhalb der Partei.

Die Tatsache, dass ein Abgeordneter aufgrund haltloser Vorwürfe und erfundener Anschuldigungen seinen Ruf und Leumund verliert und letztlich politisch vernichtet wird, trifft nicht nur die betroffene Person, sondern wirft auch ein erschreckendes Licht auf die innerparteilichen Strukturen und Mechanismen der Berliner Grünen.

Ich selbst habe ähnliche Erfahrungen gemacht, als ich 2021 wenige Tage vor der Wahl durch gezielte Intrigen und falsche Beschuldigungen zur persona non grata erklärt wurde. Das Muster ist immer gleich: Es wird mit Unterstellungen gearbeitet, die jeglicher Grundlage entbehren, deren Zerstörungskraft jedoch unwiderruflich bleibt. Dabei wird oft auch die Presse  für dieses skrupellose Machtspiel benutzt - bei mir war es die Springer-Presse. Diejenigen, die von solchen Manövern profitieren, sind auffällig häufig dieselben Personen – Akteure, die mit gezielter Diffamierung unliebsame Konkurrenten systematisch ausschalten. Deshalb ist die Frage nach den Nutznießern dieser Kampagnen, mehr als berechtigt. 

In meinem Fall wurde wenige Tage vor der Wahl behauptet, ich hätte Türken als Mitglieder in die Partei gebracht, damit sie mich wählen. Um diese Unterstellung zu untermauern, wurde sogar die Mitgliederliste der Grünen-Mitte, auf die im Übrigen nur wenige berechtige Personen Zugriff haben, der Presse zugespielt. Da einige der Neumitglieder türkische Namen hatten, können diese türkische Mitglieder schließlich nur zu Mutlu gehören, so simple Schlussfolgerung und die Beschuldigung. Aufgeklärt oder bewiesen wurden diese Beschuldigungen ebensowenig, denn die Nutznießer der Intrige gegen mich damals, saßen nicht nur in KV-Mitte, sondern auch im Landesvorstand. Jetzt und in 2021 profitierten dieselben Personen von der Diffamierungs-Kampagne.

Dieses Verhalten offenbart ein tief verankertes strukturelles Problem, das in der Parteikultur der Berliner Grünen verwurzelt ist. Solche Vorgänge schaden nicht nur den betroffenen Einzelpersonen, sondern untergraben das Vertrauen in die Politik und die demokratische Kultur insgesamt. Sie zerstören Karrieren, vergiften das Arbeitsklima und entmutigen engagierte Menschen, sich politisch zu beteiligen.

Die Berliner Grünen müssen sich diesem schwerwiegenden Problem endlich stellen und die Vorwürfe lückenlos aufklären. Es darf nicht länger akzeptiert werden, dass Intrigen und Machtspiele in einer Partei, die Transparenz, Gerechtigkeit und Solidarität propagiert, zum Alltag gehören. Diese destruktiven Strukturen und Methoden müssen ans Licht gebracht und konsequent hinterfragt werden, um ähnliche Vorfälle in Zukunft zu verhindern und um das verloren gegangene Vertrauen wiederherzustellen.

Die Öffentlichkeit hat auch ein Recht darauf zu erfahren, wie solche Mechanismen immer wieder greifen, ohne dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Nur durch schonungslose Transparenz und eine radikale Selbstkritik kann dieses strukturelle Problem überwunden werden – zum Schutz der politischen Kultur und zum Wohle der Demokratie. Andernfalls riskieren die Grünen nicht nur, weitere Karrieren und Existenzen zu zerstören, sondern auch das Vertrauen in die Politik nachhaltig zu beschädigen.

Mein Engagement bei den Grünen war stets von Leidenschaft und dem Glauben an ihre Werte geprägt, doch diese Partei ist nicht mehr die politische Heimat, für die ich einst gekämpft habe. Intrigen, Machtspiele und eine eklatante Fehlerkultur haben Bündnis 90/Die Grünen Berlin zu einer Organisation gemacht, die meine Überzeugungen und Werte nicht länger repräsentiert. Ich kann und will diese Strukturen nicht länger mittragen.

Nach über 30 Jahren Einsatz und Engagement für die Grünen - davon 7 Jahre als Mitglied der BVV Kreuzberg, 14 Jahre als Mitglied des Abgeordnetenhauses von Berlin und Grüner MdB von 2013 bis 2017 - ziehe ich für mich persönlich die Konsequenz und trete mit sofortiger Wirkung aus der Partei Bündnis 90/Die Grünen aus. 

Mit freundlichen Grüßen 
Özcan Mutlu

Präsident Behinderten- und Reha-Sportverband Berlin e.V.,
Präsident Deutsch-Türkischer-Städtepartnerschaftsverband e.V.,
Mitglied 18. Deutscher Bundestag
Mitglied Deutsche UNESCO Kommission,
Stiftung Mercator Senior-Fellow Istanbul-Policy-Center


Das sind die Seiten von Özcan Mutlu (ehem. MdB für Bündnis 90 / Die Grünen Berlin).

Herausgeber und verantwortlich für den Inhalt: Özcan Mutlu
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