Keine Trennung!

Inklusion in der Schule funktioniert. Aber nur dann, wenn wir uns daran gewöhnen, dass Schüler und ihre Leistungen nicht zu vereinheitlichen sind. EIN GASTBEITRAG VON ÖZCAN MUTLU

Versündigt man sich an seinem Kind, wenn es die Förderschule besucht? Setzt man es damit halb garen Bildungsexperimenten aus? So fragt die saarländische Ministerpräsidentin Annegret Kramp-Karrenbauer in ihrem Artikel Nicht mit der Brechstange (ZEIT Nr. 31/14). Diese Fragen sind viel zu schlicht. Fakt ist: Die meisten Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf kommen aus sozial schwachen Verhältnissen. Sie besuchen die Förderschule, weil das Regelschulsystem sie nicht will und weil ihre Eltern oftmals gar nicht wissen, dass eine Überweisung auf eine dieser Schulformen ihr Kind selten weiterbringt. Lernzuwächse? – Fehlanzeige. Stattdessen sind die kognitiven Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler nach dem Abschluss geringer als beim Eintritt. Die Bildungsungerechtigkeiten werden reproduziert, nicht abgebaut. Abschlüsse an Förderschulen anzuerkennen ist deshalb eine Maßnahme, die keinen Beitrag zur Kompetenzentwicklung von Schülerinnen und Schülern leistet. Nichts spricht dafür, dass diese Schulformen fortbestehen.

In vielen anderen Ländern ist es längst Standard, dass Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderung gemeinsam lernen und leben. Warum das bei uns nicht funktioniert? Vor allem deshalb, weil vielerorts noch immer eine Vorstellung von kindlicher Entwicklung und kindlichem Lernen vorherrscht, das längst überholt und zutiefst ideologisch ist. Noch immer wird Vielfalt als Grundlage unseres Menschseins nicht akzeptiert, und noch immer werden Kinder und Jugendliche nach Begabungen sortiert. Sie lassen sich aber nicht einfach so sortieren, denn sie haben alle unterschiedliche Eigenheiten, Bedürfnisse und Bedarfe, eigene Stärken und Schwächen.

Es ist deshalb an der Zeit, Vielfalt als Tatsache anzuerkennen und mit dieser Vielfalt positiv zu arbeiten. Es ist Zeit, dass der gemeinsame inklusive Unterricht der Regelfall wird – auch wenn wir es in unserem Land nicht mit „einem“, sondern mit 16 unterschiedlichen Bildungssystemen zu tun haben. Hinzu kommt der Bund, der auch immer ein bisschen mitreden will. Diese Umstände müssen bei der Verwirklichung von Inklusion bedacht werden. Es darf aber nicht sein, dass sich diese gewachsenen Systeme der Inklusion verschließen. Für mich ist klar: Teilhabe ist unteilbar – von Flensburg bis nach Garmisch-Partenkirchen, von Görlitz bis nach Aachen.

Frau Kramp-Karrenbauer hat recht, wenn sie davon spricht, dass es Grenzen bei der Verwirklichung der Inklusion von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung gibt. Ja, die gibt es. Diese Grenzen sind aber nicht unter den Schülerinnen und Schülern zu finden, sondern aufseiten des deutschen Systems – denn in anderen Ländern kann Inklusion sehr wohl gelingen. Infolge der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, die 2009 in Deutschland in Kraft getreten ist, muss nicht mehr das jeweilige Kind oder der jeweilige Jugendliche ihre oder seine Inklusionsfähigkeit unter Beweis stellen, sondern die Schule muss rechtfertigen, warum sie bestimmte Schülerinnen und Schüler nicht in einem gemeinsamen Unterricht bilden und betreuen kann oder möchte. Die Beweislast ist also umgedreht, aber das zeigt in Deutschland noch kaum Auswirkungen. Was sich noch nicht geändert hat, ist die Mentalität: Die Grenzen in unserem bestehenden System sind vor allem Grenzen in den Köpfen von Politikern und Verbandsfunktionären. Es sind aber auch Grenzen in den Köpfen von Lehrern oder Eltern, die für dieses Neue – die Inklusion – schlicht noch keine neuen Verhaltensweisen erlernt haben. Beides muss man ernst nehmen, beides lässt sich mit der Zeit ändern.

Wenn Frau Kramp-Karrenbauer schreibt, dass die Bildungspolitik am jetzigen Förderschulsystem „jahrzehntelang gebaut“ habe, dann stimmt das sicherlich. Es wurde aber auch fehlgebaut, und das hatte einen spezifischen Grund. So war und ist Schule in Deutschland immer auch geprägt von der Vorstellung, dass man die unterschiedlichen Begabungen zugunsten einer Einheitlichkeit in verschiedenen Schulformen auflösen könne. Heute weiß jeder: Die Unterschiede hinsichtlich der – fachlichen – Leistungen verlaufen nicht zwischen den einzelnen Schulformen, sondern zwischen den jeweiligen Einzelschulen und selbst da noch mal zwischen einzelnen Klassen. Deshalb ergibt es auch keinen Sinn, „das“ Gymnasium per se davon auszunehmen, sich zu einer inklusiven Schule zu entwickeln. Wenn dieses Argument sich auch auf die Universitäten auswirkt und das Lehramtsstudium so reformiert wird, dass es an Schulstufen statt an Schulformen orientiert ist, dann kann natürlich auch „das“ Gymnasium einen gemeinsamen Unterricht von Kindern und Jugendlichen mit und ohne Behinderung gewährleisten. Zumal es ja heute schon faktisch eine heterogene Schulform ist und es bereits heute Gymnasien gibt, an denen Inklusion gelebt wird.

Und hinsichtlich der Finanzierung von Inklusion sollte man auch nicht übertreiben: Ihre Verwirklichung kostet kurzfristig mehr, langfristig ist sie aber kostenneutral, weil eben nicht mehr zwei parallele Systeme finanziert werden müssen. Es wird dafür auch nicht mehr Lehrpersonal oder mehr therapeutisches Personal gebraucht. Stattdessen müssen die Zumessungen eins zu eins vom System Förderschule in das System Regelschule übertragen werden. Außerdem muss die Lehreraus- und -fortbildung grundlegend reformiert werden. Inklusion kann gelingen – dafür ist aber wirklich eine ideologische Lockerung notwendig. Frau Kramp-Karrenbauers Artikel war eher vom Gegenteil geprägt.

http://www.zeit.de/2014/34/inklusion-foerderschulen

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