In der Geburtsurkunde steht Kevin, Sevtap, Ludwig oder Marie. Auf dem Papier sind sie alle gleich, in der Kita auch noch. Aber danach nicht mehr. Wahrscheinlich muss Kevin doppelt so gute Noten haben wie Ludwig, um Abitur zu machen. Ob Sevtap eine Chance auf die Ausbildung zur technischen Produktdesignerin bekommen wird, auch wenn sie sich mit dem gleichen Notenschnitt wie Marie bewirbt, steht in den Sternen. Wie ist zu erklären, dass Deutschland als ein wohlhabendes Land, es nur selten schafft, die Kinder unabhängig von ihrer Herkunft zum Erfolg zu bringen?
Bildungsgerechtigkeit ist nach wie vor die Achillesferse des deutschen Bildungssystems. Und das leidige Kooperationsverbot verfestigt diesen Missstand von Generation zu Generation. Vor rund zehn Jahren beschloss die damalige Große Koalition, dass Bund und Länder in der Bildung nicht zusammenarbeiten dürfen. Kein Geld fließt aus Berlin deshalb seither dauerhaft in Klassenzimmer und Schulen – auch wenn die Länder in Geldnöten sind und der Bund zu zahlen bereit wäre.
Wer sind die Gewinner des Kooperationsverbotes?
Die Schulen, die zu wenig Geld haben und vom Bund nicht unterstützt werden dürfen? Die Schülerinnen und Schüler, die nicht überall gleich gerecht behandelt werden? Die Eltern, die aufgrund der unterschiedlichen Lehrpläne mit ihren Kindern im Schulalter nur schwerlich umziehen können? Die Lehrerinnen und Lehrer, die sich nur bedingt über Ländergrenzen hinweg versetzen lassen können? Die Lehramtsstudierenden, die wegen uneinheitlichen Studienordnungen schwerer einen Studienortwechsel innerhalb Deutschlands bewerkstelligen können als ins Ausland zu gehen? Niemand, gar niemand ist Gewinner des Kooperationsverbots, mit der die Kleinstaaterei in der Bildung manifestiert wird. Das Kooperationsverbot war von Anfang an eine grandiose Fehlentscheidung der Großen Koalition, welche 2006 im Zuge der Föderalismusreform im Grundgesetz verankert wurde. Für mich ist die Aufhebung des Kooperationsverbotes längst überfällig.
Das Kooperationsverbot ist grotesk
Die Kooperation zwischen Bund und Ländern gesetzlich zu verbieten, genau da, wo es die Jüngsten betrifft, ist eine groteske Auslegung der Länderhoheit im Bereich Bildungspolitik und weltweit wohl einmalig! Alle jungen Menschen, die in unserem Land leben, haben ein Recht auf gute Bildung.
Wir müssen unsere Bildungsinstitutionen nicht nur fit für die Zukunft, sondern auch fit für die Einwanderungsgesellschaft machen. Die Fehler der strukturellen Nicht-Integration der Gastarbeitergeneration dürfen wir heute bei den Kindern der Geflüchteten nicht wiederholen. Sonst drohen uns in wenigen Jahren hierzulande französische Verhältnisse, die auf jeden Fall vermieden werden müssen. Gute Bildung ist nämlich auch eine Investition in die Sicherheit unseres Landes und in ein friedliches Zusammenleben. Es ist daher unsere Pflicht alle jungen Menschen, inklusive der geflüchteten, bestmöglich in das deutsche Bildungssystem zu integrieren. Statt über unsinnige und gesetzeswidrige Obergrenzen zu diskutieren, braucht unser Land eine konsequente Bildungsoffensive. Denn Bildungspolitik ist Integrationspolitik!
Die Haushalte der Bundesländer sind aber so unterschiedlich ausgestattet, dass sie gar nicht in der Lage sind, gleichermaßen Chancengerechtigkeit für alle Schülerinnen und Schüler sicherzustellen. Bildungsungerechtigkeit ist somit in unserer Verfassung verankert. Dass ein Arbeiterkind in Bremen grundsätzlich und alleine wegen der schlechteren Haushaltslage seines/ihres Bundeslandes mindere Bildungschancen als in Bayern hat, kann nicht weiter akzeptiert werden.
Der Schandfleck sozialer Undurchlässigkeit
Dieser Schandfleck der sozialen Undurchlässigkeit im Schulsystem wird uns auch immer wieder von zahlreichen Studien bestätigt. In deutschen Schulen ist Bildungsungerechtigkeit ein eklatantes und strukturelles Problem. Nicht zuletzt auch, weil immer weiter an dem Kooperationsverbot festgehalten wird, anstatt die Kleinstaaterei endlich abzuschaffen.
Demgegenüber und in Anbetracht der immer größer werdenden Herausforderungen, vor denen die Schulen stehen, wie z.B. Inklusion, Sprachförderung, Ausbau der Ganztagsschulen und digitale Bildung muss sich der Bund endlich wieder in die Bildungspolitik einbringen dürfen. Durch die Vielzahl der geflüchteten Kinder und Jugendlichen, die jetzt in Deutschland ihre neue Heimat finden und umgehend in das Schulsystem integriert werden müssen, sind viele Städte und Gemeinden überfordert. Die Kultusministerkonferenz spricht von bis zu 325.000 neuen SchülerInnen aus dem Kreis der Geflüchteten. Kaum ein Bundesland kann diese finanziellen Herausforderungen alleine stemmen. Wo steckt hier die Logik, dass der Bund nicht einspringen kann, wenn wir doch in 2015 einen Milliarden-Überschuss erwirtschaftet haben? Da reicht es auch nicht aus, wenn das Bundesministerium für Bildung und Forschung ein paar Koordinierungsstellen für Geflüchtete schafft oder eine Deutsch-APP bereitstellt.
In der aktuellen Situation müssen vor allem Maßnahmen, die aufgrund der vielen geflüchteten Kinder und Jugendlichen unter 16 Jahren besonders dringend sind, angestoßen und umgesetzt werden. Höchste Priorität müssen unter anderem der Ausbau von Ganztagsschulen, die Sprachförderung und der Einsatz von SchulsozialarbeiterInnen haben.
Wir brauchen eine Bildungsoffensive
Wir brauchen dafür eine dringende und flächendeckende Bildungsoffensive. Diese gibt es nicht zum Nulltarif, daher gehört der Irrsinn Kooperationsverbot abgeschafft. Wir müssen uns von dem Dogma „Schule ist Ländersache“ verabschieden und Kooperation zwischen Bund und Länder ausdrücklich fördern. Es geht dabei nicht nur, aber auch um finanzielle Förderung, die es allen, vor allem den finanzschwachen Bundesländern ermöglicht, in einen konstruktiven Wettbewerb einzusteigen.
Das heißt nicht, dass die Länder ihrer inhaltlichen Gestaltungsfreiheit beraubt werden sollen. Der Bund kann aber durch die Aufhebung des Kooperationsverbotes die Länder unmittelbar unterstützen. Er kann z.B. bei der Finanzierung des dringend benötigten Lehrpersonals aushelfen. Das betrifft insbesondere auch LehrerInnen für das Fach Deutsch als Zweitsprache, von denen in naher Zukunft Tausende benötigt werden.
Die Angst vor einem Bildungszentralismus ist unbegründet. Es geht darum, dem Bund Möglichkeiten der Zusammenarbeit im Konsens mit den Ländern zu geben. Dadurch sollen über die bisherigen Kooperationen, wie die zweijährliche nationale Bildungsberichterstattung oder die gemeinsam finanzierte Teilnahme an internationalen und nationalen Schulleistungsstudien, hinaus gemeinsame Maßnahmen und Programme für mehr Bildungsgerechtigkeit möglich werden.
Wir brauchen eine gesamtstaatliche Verantwortung von Bund, Ländern und Kommunen im Bildungsbereich. Damit alle Menschen an guter Bildung teilhaben können. Deshalb fordern wir, dass das Grundgesetz dringend reformiert werden muss, damit das Kooperationsverbot auch im Bildungsbereich aufgehoben und eine Bildungsoffensive für eine bessere, gerechte und inklusive Bildung gestartet wird. Nur so können wir Hand in Hand mit Kommunen, Ländern und Bund, die aktuellen, komplexen Herausforderungen der Bildungspolitik in unserem Land und zum Wohle unseres Landes meistern. Nur dann braucht Kevin vielleicht nicht mehr doppelt so gute Noten wie Ludwig, um Abitur zu machen und Sevtap hätte die gleichen Chancen wie Marie.
http://www.huffingtonpost.de/oezcan-mutlu/kooperationsverbot-bildungsgerechtigkeit-bildung-deutschland_b_11971418.html
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