Sehr geehrter Herr Präsident,
liebe Kolleginnen und Kollegen,
PISA – das war bis 2001 für die meisten Menschen in unserem Land eine kleine Stadt mit einem schiefen Turm in der Toskana. Nach Veröffentlichung der 1. PISA-Studie Dez. 2001, verbinden aber viele mit PISA vor allem eine Schieflage des deutschen Schulsystems. Die Ergebnisse waren desaströs und vom PISA-Schock war die Rede.
Heute, mehr als 12 Jahre danach muss ich leider feststellen: Das deutsche Schulsystem ist – trotz mancher Fortschritte und Verbesserungen – weiterhin in einer Schieflage. Eine ganze Schülergeneration musste unser Schulsystem durchlaufen, damit manche endlich sagen konnten: Hurra, wir befinden uns über dem OECD-Durchschnitt.
Ich verüble es Ihnen nicht, dass Sie sich nun als Koalition gegenseitig eine „erfolgreiche“ Bildungspolitik attestieren und sich wieder mal vertragen – im Gegensatz zu den letzten Wochen. Leider muss ich Ihnen aber etwas Spreewasser in den Wein schütten. Ja, wir haben im Vergleich zu 2001 einige Fortschritte gemacht. Ja, wir sind nach 12 Jahren in allen gemessenen Bereichen über dem OECD Durchschnitt. Aber ist das alles? Reicht Ihnen das? Geht es Ihnen nur um Rankings? Ist das Ihr Verständnis von guter Bildungspolitik? Wir sagen NEIN!
Schauen wir uns doch mal die Ergebnisse genauer an: „Schulische Bildung in Deutschland – besser und gerechter.“ So, lautet der Titel unseres gemeinsamen Tagesordnungspunkts. Besser? Vielleicht. Und gerechter? NEIN, keineswegs!
2001 gehörten 23 Prozent der teilnehmenden Schülerinnen und Schüler zur Risikogruppe. Heute sind es 18 Prozent, die zur Risikogruppe gehören. Besonders betroffen waren damals Schülerinnen und Schüler aus Arbeiterfamilien oder Kinder mit Migrationshintergrund. 2014 gehören diese Schülergruppen weiterhin zu der überproportional gefährdeten Gruppe. Auch heute entscheidet bei vielen Schülerinnen und Schülern der Geldbeutel der Eltern über den Bildungserfolg.
Das war – das ist – und das bleibt ein Skandal, dass Sie hier nicht mit Floskeln wegdiskutieren können. Ich sage: Stagnation ist kein Erfolg und Stagnation ist auch nicht „besser und gerechter“
Einiges ist besser geworden, sagen sie als Vertreter der GroKo. Ich will das nicht vollumfänglich bestreiten. Dass deutsche Schülerinnen und Schüler in den MINT-Fächern im Durchschnitt besser abschneiden, als vor 12 Jahren ist richtig und erfreulich. Aber bei näherer Betrachtung kommen auch andere Ergebnisse zu Tage: 18 Prozent der Schülerinnen und Schüler befinden sich im Fach Mathematik unterhalb der Stufe 2 und können nur einfache Formeln und Schritte zur Lösung einer Aufgabe heranziehen.
Mädchen erzielten im Fach Mathematik im Schnitt 14 Punkte weniger als Jungen! Hier haben wir uns sogar verschlechtert. Kinder mit Migrationshintergrund haben in Mathematik einen Rückstand von 1,5 Schuljahren gegenüber Kindern ohne Zuwanderungsgeschichte.
Trotz Verbesserungen in der Lesekompetenz, befinden sich 14 Prozent der Schülerinnen und Schüler bei der Lesekompetenz unterhalb der Stufe 2 und sind faktische Analphabeten. Das ist ein Skandal!
Meine Damen und Herren,
in unserem Schulsystem – oder soll ich lieber von Schulsystemen reden – gibt es immer noch eine ausgesprochen dünne Leistungsspitze und weiterhin einen sehr hohen Anteil an Risikoschülern. Hinzu kommt eine immense soziale Abhängigkeit hinsichtlich der erzielten Kompetenzen. Das ist nicht „besser und gerechter“, das ist schlicht und ergreifend ungerecht! Das ist ein Armutszeugnis für unser Bildungssystem!
Kritik ist aber nicht nur hinsichtlich der Ergebnisse angebracht. Ich möchte von Ihnen wissen: Wie soll es weitergehen mit dem Kooperationsverbot? Das Ei, das Sie uns Bildungspolitikern ins Nest gelegt haben und damit die Kleinstaaterei in der Bildungspolitik manifestiert haben.
Wie schaut es aus, mit Investitionen in die Bildung und die Bildungsinfrastruktur? Vor allem im Bereich der frühkindlichen Bildung? Wie wollen Sie mit dafür sorgen, dass der Mangel an Lehrkräften, der aufgrund des hohen Durchschnittsalters der Betroffenen lawinenartig ansteigen wird, nachhaltig angegangen werden kann?
Warum ist die Lehrerbildung in Deutschland noch immer so chaotisch und was ist mit den notwendigen Reformen in der Lehrerbildung? Wie wollen Sie die Länder bei der Bewältigung der Mammutaufgabe Inklusion unterstützen, die – wie auch die aktuelle PISA-Studie zeigt – überfällig ist?
Zu viele Fragen und zu wenig Antworten! Deshalb kommt bei uns – im Gegensatz zu Ihnen – keine Freude auf.
Gute Bildung darf im Land der Dichter und Denker nicht zum Luxusgut werden! Wer einen sozialen und demokratischen Staat will, wer Teilhabe und Integration will, muss sich für Bildungsgerechtigkeit einsetzen!
Sicherlich kann nicht jedes Kind einen Nobelpreis gewinnen. Aber jedes Kind MUSS gleiche und gute Startchancen bekommen. Und Bildungserfolg darf auch keine Frage des Glücks oder des Geldbeutels sein. Deshalb sind wir alle gefordert nachhaltige und notwendige Maßnahmen und Reformen einzuleiten! Es bleibt noch viel zu tun. Wir werden Sie dabei konstruktiv kritisch begleiten.
Und vielleicht gelingt es uns ja gemeinsam, die Länder – und da möchte ich Baden-Württemberg gar nicht ausschließen – dafür zu gewinnen, das Kooperationsverbot im Interesse unserer Kinder und Jugendlichen anzupacken.
In dem Sinne danke ich Ihnen für die Aufmerksamkeit und freue mich auf eine konstruktive Zusammenarbeit.
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