Nie zuvor hat Bildung derartig viele Lebenschancen eröffnet wie heute. Weltweit schafft bessere Bildung Wohlstand und fördert soziale Teilhabe. Gleichzeitig stehen diejenigen ohne gute Bildung vor größeren Risiken als je zuvor.
Eigentlich fing alles ganz vielversprechend an. Nach dem PISA-Schock im Jahr 2001 vollzog sich in Deutschland eine „empirische Wende“, die wichtige Erkenntnisse lieferte. Dass es in Deutschland eine große Gruppe sogenannter Risikoschüler gibt, dass ein Zusammenhang besteht zwischen Bildungserfolg und sozio-ökonomischem Hintergrund, das frühkindliche Bildung ein wichtiger Faktor für Chancengerechtigkeit ist, und dass das Erlernen der deutschen Sprache der Schlüssel für mehr Bildungserfolg ist, wurde infolge von PISA empirisch belegt.
Nach dem PISA-Schock wurden in Deutschland wichtige Reformen eingeleitet. Vor allem aber wurde die Gruppe der sogenannten Risikoschüler in den Fokus bildungspolitischer Aufmerksamkeit gerückt. In den folgenden Jahren waren deshalb auch deutliche Verbesserungen bei den PISA-Ergebnissen zu verzeichnen.
Die Reformdynamik hat jedoch in den letzten Jahren deutlich nachgelassen: Die Leistungsergebnisse stagnieren seit 2009, und neue PISA-Ergebnisse zeigen außerdem, dass es den 15-jährigen Schülern in Deutschland insbesondere bei den für die Zukunft so wichtigen kreativen Problemlösefähigkeiten mangelt. Zudem ist Bildungsungerechtigkeit weiterhin die Achillesferse des deutschen Bildungssystems.
Jedes Mal nach der Vorstellung der Ergebnisse wird schnell nach Schuldigen gesucht: Es wird in aller Regel mit dem Finger auf Schüler*innen mit Migrationshintergrund gezeigt. Mit Empirie ist diese „Schuldzuweisung“ qualitativ und quantitativ nicht belegbar. Fakt ist, dass in anderen Staaten Schüler*innen mit ähnlicher Migrationsbiografien deutlich besser abschneiden.
Unterrichtsqualität ist der Schlüssel: Guter Unterricht ist inklusiver Unterricht, der alle mitnimmt, und bei dem Lehrer*innen die außergewöhnlichen Fähigkeiten gewöhnlicher Schüler erkennen und fördern. Vielfalt ist mancherorts eine Herausforderung oder wird als solche gesehen. Daher ist es umso wichtiger, alles vom Klassenzimmer über den Unterricht bis zur Ausbildung und Fortbildung des pädagogischen Personals auf den Umgang mit Vielfalt auszurichten. Nur so können junge Menschen ihrer Potentiale entfalten. Denn Heterogenität im Klassenzimmer ist längst die neue Normalität. Junge Menschen müssen in der Lage sein, gute und tragfähige Beziehungen aufzubauen, mit Konflikten umzugehen, um sich in pluralistischen Gesellschaften einzubringen. Soziale Intelligenz, emotionale Sicherheit und Gründergeist sind dabei wichtige Dimensionen. Je komplexer unsere Arbeitswelt wird, und je mehr der Umfang kodifizierten Wissens zunimmt, umso mehr gewinnen außerdem Menschen an Bedeutung, die die Komplexität nicht nur verstehen, sondern auch für Menschen mit anderen Blickrichtungen und aus anderen Fachrichtungen verständlich machen können.
Zunächst müssen wir mit Schulzuweisungen aufhören. Was wir brauchen, ist ausreichend gut aus- und weitergebildetes Personal, sind gute Räume, sind Rahmenlehrpläne, die sich auf das wesentliche konzentrieren, ist eine rhythmisierte Schule im Ganztag. Eine Schule, die sich allen Kindern und deren Bedürfnissen anpasst. Letztlich ist nicht die Schulform, die Herkunft, oder die Klassengröße entscheidet über den Erfolg oder Nichterfolg von Schüler*innen, sondern die Qualität des Unterrichts – und somit die Qualität der pädagogisch handelnden Personen. Sie brauchen eine gute Aus- und Weiterbildung und ein Arbeitsumfeld, dessen Attraktivität nicht auf dem Beamtenstatus, sondern auf Kreativität, Innovation und Verantwortung für die Lernergebnisse beruht. Und sie brauchen gute Unterstützungssysteme – damit sie am Ende nicht als Einzelkämpfer*innen im Klassenzimmer stehen. Der Lehrer*innenberuf ist einer der anspruchsvollsten und wichtigsten in unserem Land – es wird Zeit, dass wir diesem Umstand auch politisch und gesellschaftlich gerecht werden
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