Die Türkei hat über 3 Millionen Geflüchtete aufgenommen, mehr als die gesamte EU zusammen. Dafür gebühren ihr Dank und Respekt der EU. Das ist die eine Seite der Medaille. Die andere Seite ist allerdings hässlich: Man sieht Geflüchtete auf den Straßen und in Ghettos campieren, man sieht bettelnde Familien und tote Kinder am Strand. Menschen, die als billige Arbeitskräfte missbraucht werden, Frauen die zur Prostitution gezwungen werden. Alleine wird das Land die Belastungen für die Gesellschaft nicht schultern können. Die Türkei braucht bei dieser immensen Herausforderung die EU und die EU braucht die Türkei. Deshalb muss man miteinander reden und gemeinsam Lösungen suchen, ohne schmutzige Deals oder gegenseitige Drohgebärden.
Aber wie kann man gemeinsam Lösungen suchen, wenn die Basis für eine Zusammenarbeit zerstört scheint? Wie kann man mit Ländern Verträge und Vereinbarungen schließen, wenn diese die Menschenrechte nicht achten? Wenn Meinungs- und Pressefreiheit nicht gegeben sind? Wenn es keinen Minderheitenschutz gibt? Wir schreiben das Jahr 2020 und 90 Journalist*innen sitzen aktuell aufgrund von kritischer Berichterstattung in türkischen Gefängnissen. Die traditionelle Schwulen- und Lesbenparade in Istanbul wurde auch dieses Jahr wieder verboten.
Es war von vorneherein ein Fehler, den sog. „Flüchtlingsdeal“ mit Visumerleichterungen zu verknüpfen. Schließlich haben die Türken als Folge des Assoziationsabkommens besondere Rechte, die auch eine Visafreiheit in die EU vorsehen. Jedoch stellt sich die Frage, ob man ein ganzes Volk für die Politik ihres Präsidenten bestrafen darf – und ihnen deswegen die Visumfreiheit verweigern kann? Heribert Prantl hat m.E. richtig kommentiert: „Die Visumfreiheit ist genau genommen keine Belohnung für Erdoğan; sie ist eine Geste der Anerkennung für die Menschen in der Türkei: Es geht um Augenhöhe. Die Visumfreiheit wird ihnen seit Jahren versprochen. Deutsche haben alle Freiheiten bei der Einreise in die Türkei; Türken bei der Einreise nach Deutschland nicht. Üblicherweise gilt das Prinzip der Reziprozität: Wenn Reisefreiheit in die eine Richtung gilt, dann gilt sie auch in die andere.“ Außerdem ist auch die Reisefreiheit für den wirtschaftlichen, aber auch den politischen und kulturellen Austausch wichtig und auch ein Gewinn für die EU.
Dennoch, die Entwicklungen in der Türkei bereiten mir große Sorgen. Die politische Unterdrückung spitzt sich zu. Das Europa, von dem die europäischen Türken träumen, scheint gerade seinen eigenen Traum zu verlieren. Es zeigt sich immer mehr, dass es ein großer Fehler war, den EU-Beitritt der Türkei so lange zu verschleppen. Jahrzehnte hat man die Türkei vor den Toren der EU warten lassen – um jetzt plötzlich festzustellen, dass man sie als wichtige Regionalmacht braucht. Das war unglaublich kurzsichtig von der EU und besonders von Deutschland.
Es gibt eine andere, moderne Türkei jenseits von Präsindet Erdoğan. Diese gilt es zu unterstützen. Wir müssen Missstände konsequent und deutlich kritisieren und mit moderaten, zivilen Kräfte im Land enger kooperieren. Die Demokratinnen und Demokraten in der Türkei brauchen unsere Unterstützung, denn nur eine europäische Türkei ist ein Garant für eine demokratisch verfasste Türkei, von der keine Gefahr für die EU ausgeht. Hierzu ist es aber auch nötig, entschlossener gegen Islamophobie und Populismus in Europa vorzugehen und die Menschen, die in Europa leben, in den jeweiligen EU-Ländern anzuerkennen und zu integrieren. Can Dündar, der zu fünf Jahren Haft verurteilte Chefredakteur der linksliberalen Zeitung Cumhuriyet, sagte bei seinem Besuch im Deutschen Bundestag sehr treffend an die Adresse der Mitglieder des Bundestages: „Während wir in der Türkei für europäische Werte und für Demokratie kämpfen, schweigen die Regierungschefs der EU zu den Menschenrechtsverletzungen in meinem Land. Europa muss kapieren, dass die Türkei nicht Erdoğan gehört!“
In Zeiten, in denen Europa von einer tiefen Identitätskrise geschüttelt wird, müssen wir uns daran erinnern, welch unschätzbare Errungenschaft wir mit unserer freiheitlich demokratischen Grundordnung in den Händen halten und dass wir sie alle gemeinsam aktiv mitgestalten und verteidigen müssen. Nur so kann zusammenwachsen, was zusammengehört.
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