Es gibt Persönlichkeiten, die sinnbildlich für das Verhältnis zwischen der Türkei und Deutschland stehen. Dazu zählen Ernst Reuter und sein Sohn Edzard Reuter. Edzard Reuter war gerade Mal sieben Jahre alt, als er 1935 mit seiner Mutter zu seinem Vater nach Ankara floh. Sein Vater, Ernst Reuter, der erste Berliner Bürgermeister der Nachkriegszeit, flüchtete bereits 1934 nach Ankara, nachdem er zwei Mal von den Nationalsozialisten in ein Konzentrationslager geschickt wurde. Das Exil war die einzige Möglichkeit für die Reuters zu überleben. Sie waren nicht die Einzigen die während der Schreckensherrschaft der Nazis Zuflucht in der Türkei fanden. Es ist hierzulande wenig bekannt, dass die Türkei viele Jahre lang Zufluchtsort für viele Deutsche war, die von den Nationalsozialisten verfolgt wurden, weil sie Juden oder Antifaschisten waren.
Sie wurden dort „Haymatloz“ genannt, ein Wort, das es so nur im Türkischen gibt. Viele von ihnen waren Wissenschaftler, hochqualifiziert und oft Koryphäen in ihren jeweiligen Fächern. Neben Ernst Reuter waren viele weitere namhafte Persönlichkeiten im türkischen Exil. Darunter zum Beispiel der bekannte Rechtsgelehrte Ernst Eduard Hirsch, oder der berühmte Architekt Bruno Taut. Auch der Pathologe Phillip Schwartz, nach dem heute die Initiative der Bundesregierung benannt ist, die geflüchteten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus der Türkei Unterstützung in Deutschland gewährt, gehörte zu den Exil-Deutschen die zur Gruppe „Haymatloz“ in der Türkei gehörten.
Mustafa Kemal Atatürk, der Gründer der modernen Türkei sah in ihnen eine Chance für sein Land. Er wollte die Türkei an den Westen annähern und erklärte die junge Republik zu einem laizistischen Staat, führte das lateinische Alphabet ein und verbot die arabische Schrift. Die jungen Menschen in seinem jungen Staat sollten eine Ausbildung nach westlichem Vorbild erhalten. Er arbeitete an einer Universitätsreform und rief die in Deutschland verfolgten Wissenschaftler und Akademiker in die Türkei. Es kamen Mediziner, Biologen, Chemiker, Physiker, Botaniker, Mathematiker, Ökonomen, Juristen, Architekten, Historiker, Romanisten und Germanisten, aber auch Journalisten, Bildhauer und Musiker. Sie sollten das junge Land mitaufbauen und neue Hochschulen und Institute gründen, was sie auch mit großem Erfolg taten.
Heute erinnert eine Tafel am Eingang der Universität Istanbul an dieses dunkle Kapitel Deutschlands: „In Dankbarkeit dem türkischen Volk, das von 1933 bis 1945 unter der Führung von Staatspräsident Atatürk an seinen akademischen Institutionen deutschen Hochschullehrern Zuflucht gewährte. Im Namen des deutschen Volkes Richard von Weizsäcker, Präsident der Bundesrepublik Deutschland, 29. Mai 1986.“
In dem Dokumentationsfilm „Leylek Bacakli – Beine, wie ein Storch“ berichtet „Leylek bacakli“ Edzard Reuter (der mit den Storch-Beinen), von seiner Kindheit und Jugend in Ankara und von der Lehrtätigkeit seines Vaters Ernst Reuter an der Universität Ankara. Jenseits der Gepflogenheiten des türkischen Unterrichtswesens damals, unterrichtete der Professor mit der Baskenmütze und ohne Krawatte, nicht nur Diplomatie sondern impfte seinen Studenten Freiheit ein, freie Bildung fernab von Autorität und Repression war sein Motto. Die Baskenmütze wurde zu einem Symbol für eine andere Art der Lehrer-Schüler-Beziehungen, in der es nicht nur um Wissensvermittlung ging.
Die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Bildung und Wissenschaft gehört seitdem zu einer gepflegten Tradition beider Länder, die aber bis zum gemeinsamen „Deutsch-Türkischen-Wissenschaftsjahr 2014“ eher auf einem niedrigen Niveau stagnierte. Dabei ist die Zusammenarbeit im Bereich der Bildung und Wissenschaft für beide Länder wichtig und sollte weiter ausgebaut werden. Ein gutes Beispiel ist die in 2010, im Vorfeld des gemeinsamen Wissenschaftsjahres gegründete „Deutsch-Türkische-Universität“ in Istanbul. Während des gemeinsamen Wissenschaftsjahres 2014 eröffnete auch die bekannte Bahcesehir Universität Istanbul, mit der „Berlin-International – University of Applied Sciences“, die erste Hochschule in Berlin. Zu erwähnen ist auch das „Istanbul-Policy-Center“ (IPC), ein anerkannter Think-Thank an der renommierten Sabanci-Universität, als erfolgreiches Kooperationsprojekt der Mercator-Stiftung und der Sabanci-Universität. Es wendet sich dezidiert an deutsche und türkische Nachwuchswissenschaftler. Erfreulich ist ebenso, dass sich zwischenzeitlich sehr viele Universitäten in der Türkei am EU-Projekt Erasmus-Plus beteiligen.
Beide Länder sind nicht nur wichtigste Handelspartner innerhalb der EU, sondern auch kulturell und historisch eng miteinander verbunden. Das bilaterale Handelsvolumen betrug beispielsweise in 2017 insgesamt 37,7 Mrd. Euro und erreichte trotz der politischen Anspannungen zwischen Berlin und Ankara einen Rekordwert. Deutschland ist auch der größte ausländische Investor in der Türkei. Die Zahl deutscher Unternehmen bzw. türkischer Unternehmen mit deutscher Beteiligung in der Türkei beträgt etwa 7.200. Die Beziehungen zwischen den beiden Ländern waren immer schon sehr vielschichtig. Auch die etwa 3 Millionen in Deutschland lebenden Menschen, die aus der Türkei stammen und von denen bereits die Hälfte die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt, sind ein wichtiger Faktor in den bilateralen Beziehungen. Beachtlich ist auch, dass jedes Jahr etwa 5 Millionen deutsche Touristen die Türkei besuchen. Es gibt viele weitere gute Ansätze und Initiativen in beiden Ländern, besonders Städtepartnerschaften auf kommunaler Ebene, mit dem Ziel die Zusammenarbeit zu stärken und zu verfestigen. In diesem Zusammenhang kann stellvertretend die Städtepartnerschaft zwischen Berlin und Istanbul genannt werden, die 2019 ihr 30.-Jähriges Jubiläum feiert. Auch die Deutsch-Türkische-Jugendbrücke von der Mercator-Stiftung, die 2014 in Leben gerufen wurde ist sehr vorbildhaft und baut Brücken zwischen der Jugend.
Wie „Leylek-Bacakli“ Edzard Reuter einst sagte „Die Türkei und Deutschland sind zweifelsohne historische und strategische Verbündete.“ Daher ist es wichtig die Brücken zwischen beiden Ländern, im besonderem zwischen den Menschen hüben wie drüben in vielfältiger Weise zu stärken und zu vertiefen. Dennoch ist es eine Aufgabe von Freunden, Wahrheiten auszusprechen. Genau wie das türkische Sprichwort „Dost aci söyler“ sagt, „Wahre Freunde sprechen unliebsame Wahrheiten aus.“ Deshalb dürfen wir unter Freunden nicht zu Menschenrechtsverletzungen und Verletzungen der Meinungs- und Pressefreiheit schweigen.
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