Zehn Jahre Berliner Sekundarschule – Die Anti-Hauptschul-Reform, die nicht auf der Agenda stand.

Jürgen Zöllner und Özcan Mutlu – der eine Senator, der andere Opposition, beide 2010 mit gleicher Mission unterwegs. Wie kam’s? Ein Interview. SUSANNE VIETH-ENTUS

Den Corona-Wirren ist vieles zum Opfer gefallen – auch die Würdigung eines wichtigen schulpolitisches Jubiläums: Vor zehn Jahren wurden in Berlin die Haupt- Real- und Gesamtschulen zur neuen Sekundarschule fusioniert. Deutschlands langjährigster Minister Jürgen Zöllner (SPD) und Berlins bekanntester grüner Bildungspolitiker Özcan Mutlu blicken zurück.

In der Legislatur 2006 bis 2011 haben Sie – obwohl damals politische Gegner – an einem Strang gezogen, um die Hauptschule abzuschaffen. Das war ein ungewöhnlicher Vorgang, zumal die Sekundarschulreform weder auf der Agenda der SPD stand noch auf der der Grünen und auch nicht in der rot-roten Koalitionsvereinbarung von 2006.

Jürgen Zöllner: Ich bin 2006 nach Berlin gekommen, ich wusste, dass es Probleme im Schulsystem gibt, und dass kaum ein Bundesland so viel Geld für Schule ausgibt wie Berlin pro Schüler und dachte mir, das muss irgendwie lösbar sein. Ich bin dann 2008 in Sommerurlaub gefahren, und während dieser 14 Tage ist mir klar geworden, dass, wenn ich jetzt nichts mache, nichts mehr draus wird, weil man für so ein großes Vorhaben zwei bis drei Jahre braucht: Ich hatte Angst, dass das Schulsystem sonst nicht mehr zu reparieren ist. Zehn Prozent der Kinder in einer „Hauptschule“ zu separieren, ist einfach eine Katastrophe. Und so bin ich zurückgekommen und habe dem Regierenden Bürgermeister und dem Fraktionsvorsitzenden – Klaus Wowereit und Michael Müller – gesagt: Es muss gemacht werden und zwar jetzt: Ich mache jetzt eine Schulreform.

Und dann?
Zöllner: Das war schon ein größerer Akt, wenn Sie eine solche Reform machen und keinen Euro zusätzlich bekommen. Und alles, was Sie an zusätzlichen Stellen und Qualitäten brauchen, irgendwo anders im eigenen System einsparen müssen, ist das nicht vergnügungssteuerpflichtig.

Der linke Flügel der Grünen war damals vehement gegen die Sekundarschulreform und wollte gleich auf eine Schule für alle zusteuern.

Özcan Mutlu: Stimmt. Dem ist eine lange Diskussion vorangegangen. Die Kreuzberger Grünen hatten tatsächlich eine andere Schulreform gefordert, nämlich die Abschaffung des Gymnasiums und die Einführung einer „Schule für alle“. Ich zitiere dazu immer gern den ehemaligen Hauptschulleiter und großen Schulreformen aus Berlin, Jens Großpietsch, der gesagt hat: „In Deutschland wird eher das Biertrinken abgeschafft als das Gymnasium.“ Eine bittere Wahrheit. Als Arbeiterkind, das selbst auf einer Hauptschule war, dem die Bildungswege deshalb verschlossen waren, habe ich gesagt: Wir brauchen jetzt Lösungen. Ich habe keinen Bock, auf eine tolle Reform zu warten, die vielleicht in 20 Jahren kommt. Wir haben in einem heftigen Schlagabtausch innerhalb der Partei zwischen den Flügeln uns für die Zweigliedrigkeit entschieden. Und wir hatten das Glück, dass mit Jürgen Zöllner ein Bildungssenator nach Berlin gekommen war, der nicht im West-Berliner Parteiengezänk verhaftet war und der offen war für Ideen und Vorschläge, auch aus der Opposition. Wir Grünen hatten erst einen Antrag im Abgeordnetenhaus eingebracht, dieser wurde später zu einem Prüfauftrag geändert und dann hat die Koalition die Reform durchgesetzt. CDU und FDP waren dagegen.

Zöllner: Ich wollte möglichst viele einbinden, damit die Reform über die Legislatur hinaushält. Und deswegen habe ich in meiner Fraktion dafür geworben, dass man – anders als in Berlin üblich – nicht jeder Antrag der Opposition abgelehnt wird. Ich wollte die Grünen mitnehmen. Ich hätte auch gern die CDU mitgenommen. Es ist doch keine Schande, dass man als vernünftige Menschen einen Kompromiss sucht. Dass das nicht funktioniert, ist eine schlimme Entwicklung.

Im Jahr 2010 gab es die Hoffnung, dass man, wenn man die Hauptschulen abschafft, auch die so genannten Restschulen loswird – die Verliererschulen. Darum haben Sie, Herr Mutlu, sich damals ja auch aus der Opposition heraus so sehr eingesetzt für die Reform. Sind Sie mit dem Ergebnis zufrieden?

Mutlu: Es gibt noch eine Menge Baustellen. Die Unterrichtsqualität zum Beispiel. Man hat sich zurückgelehnt, nachdem die strukturellen Veränderungen vorgenommen worden waren. Das war ein Fehler. Die soziale Durchmischung ist noch nicht gegeben, und die Herkunft entscheidet immer noch über den Bildungserfolg. Aber es hat sich einiges gewandelt: Die Aspiration für die gymnasiale Oberstufe und das Abitur sind gestiegen. Ich möchte es an einem Beispiel darstellen: Die Refik-Veseli-Schule. Die Schule war vor der Reform als Restschule gebrandmarkt. Dieses Jahr hat die Schule ihre ersten Abiturienten entlassen und ist wieder eine nachgefragte Schule in Kreuzberg. Und wenn man sich die Schülerschaft anguckt: Das sind genau die Schüler, die wir mit der Reform erreichen wollten, eher sozial Benachteiligte aus prekären Familienverhältnissen. Das zeigt mir, dass die Reform greift. Sie greift nicht überall, vor allem da nicht, wo die gymnasiale Oberstufe fehlt. Und deshalb muss hier mehr gemacht werden.

Zöllner: Ich möchte einen anderen Blickwinkel einbringen. Ich habe nie geglaubt, dass durch die Strukturreform die zentralen Probleme der Berliner Schulen alleine gelöst werden können. Meine Hauptmotivation war die, dass dieser fundamentalistische Streit über das Für und Wider des gegliederten Schulsystems unheimlich viele Kräfte gebunden hat. Dieser Streit um die angeblich alleinseligmachende „eine Schule für alle“ hat abgelenkt von dem eigentlichen Problem der fehlenden Qualität. Ich habe in der Strukturreform eine vernünftige Voraussetzung dafür gesehen, dass man sich danach auf die eigentliche Arbeit, auf die eigentlichen Probleme konzentrieren kann.

Aber Klaus Wowereit und Michael Müller haben Ihnen Unterstützung zugesagt.

Zöllner: Sie haben ja zumindest keine Steine in den Weg gelegt. Ich glaube, es war für Michael Müller auch ein inneres Anliegen, nur hatte er wohl keine Chance gesehen, es zu machen. Wir hatten ja auch in der SPD unterschiedliche Strömungen. Ich war, hoffe ich, immer ein gesprächsbereiter und auch korrekturbereiter Senator, aber ich war in Bezug auf „eine Schule für alle“ nicht kompromissfähig. Das wusste bei mir in der Partei jeder, denn wie ich sozialdemokratische Bildungspolitik verstehe, so soll sie eine bestmögliche Förderung für alle bieten.

Was bedeutet das für Sie?
Zöllner: Es gibt Kinder, die in einer homogenen Lerngruppe besser gefördert werden können als in einer heterogenen. Ich stehe da zu einem simplen veranschaulichenden Beispiel: Wenn ich eine Nationalmannschaft im Handball möglichst optimal trainieren will, kann ich das nicht mit Mitspielern, die keinen Ball fangen können. Das muss man emotionslos sehen; die können eben anderes gut. Und diese Gesellschaft braucht aus meiner sozialdemokratischen Sicht eine optimale Förderung von jungen Menschen, die zu kognitiven Spitzenleistungen fähig sind. Denn nur dann wird die Gesamtgesellschaft einen Mehrwert erarbeiten können, um denjenigen helfen zu können, die wirklich Hilfe brauchen. Für mich ist das kein Zwischenstadium oder Kompromiss, sondern das Vernünftigste. Im Übrigen ist nicht Aufgabe des Staates, in dem für viele Menschen wichtigsten Bereich der Kindererziehung eine Zwangsbeglückung durchzudrücken. Wenn es Eltern gibt, die ihre Kinder in einer differenzierten Lerngruppe gebildet haben wollen, dann sollte man das Angebot machen. Und für diejenigen, die ihre Kinder in eine integrativen System lernen lassen wollen, muss man auch dieses Angebot machen.

Und wenn Elternwunsch und politisches Ziel sich widersprechen, Herr Mutlu?

Mutlu: Den Elternwunsch zu ignorieren, macht keinen Sinn. Das hat uns der Hamburger Volksentscheid von 2010 gezeigt. Der Berliner Weg war eben ein anderer. Er hat den Elternwunsch berücksichtigt. Deshalb ist der massive Widerstand, die die Hamburger Regierung damals erfahren hat, in Berlin ausgeblieben. Natürlich finde ich eine „Schule für alle“ gut. Aber die Tradition in Deutschland mit der Gliedrigkeit ist leider in der Gesellschaft so verankert, dass so die „Schule für alle“ in absehbarer Zeit nicht möglich ist. Also muss alles dafür getan werden, damit jetzt schon die bestmögliche Förderung und bestmögliche Qualität in den Schulen geboten werden. Das Besondere am zweigliedrigen System ist, dass es keine Sackgassen mehr gibt und das Abitur in zwei Geschwindigkeiten möglich ist. Mit der Hauptschule ging das nicht. Und deshalb ist dieser Weg und die Struktur mit zwölf oder 13 Jahren zum Abitur, der absolut Richtige.

Die Bildungsexperten der jetzigen Koalition diskutieren aber darüber, ob nicht alle Sekundarschulen eine eigene oder zumindest eng verbundene gymnasiale Oberstufe haben sollten.

Zöllner: Ich habe überhaupt keine Probleme, dass man, wenn es eine große Reform gegeben hat, später etwas verbessert. Und ich glaube, die Schulstrukturreform war eine große Reform. Ich empfinde das eher als Kompliment für die Strukturreform, dass offensichtlich das Grundgerüst so ist, dass es sich lohnt, es zu optimieren.

Aber seit Jahren gibt es Diskussionen über die direkte Anbindung zu Abitur.

Zöllner: Der Grundgedanke ist sicher richtig. Darum war die Kooperation mit Oberstufenzentren ja auch von Anfang an vorgesehen. Ob das ausreicht, konnte man vorher nicht wissen. Wenn man hier etwas durch ein höheres Maß an Verbindlichkeit optimiert, erscheint mir das durchaus sinnvoll zu sein. Ich warne nur davor, dass man das Wesentliche, nämlich dass es um Qualität in der Schule geht, um des Scheins Willen vernachlässigt. Es muss eine genügende Jahrgangsbreite von potentiell geeigneten Schülern für die Oberstufe da sein. Sonst würde ein niedrigeres Niveau wieder negative Rückwirkungen auf das gesamte Schulsystem haben.

Es gibt ja starke Tendenzen, sowohl der SPD, Grünen und Linken, das Probejahr an Gymnasien abzuschaffen. Damit entfiele eines der letzten Alleinstellungsmerkmale. Will man damit der einen Schule für alle näherkommen?

Mutlu: Da muss ich widersprechen. Wenn man das Probejahr abschafft, heißt es nicht, dass man die Gymnasien abschafft. Aber die Gymnasien hätten die Pflicht, die Schüler, die sie aufnehmen, bestmöglich zu fördern, damit alle Schülerinnen und Schüler die Bildungsziele des Gymnasiums erreichen

Zöllner: Aus meiner Sicht ist das nicht zu Ende gedacht. Ich habe ja vorhin angedeutet, dass ich den Eindruck habe, dass die Gymnasien die Strukturreform auch gutheißen. Und da ist die Sache mit dem Probejahr ein entscheidender Baustein. Ich habe damals vor der Alternative gestanden, entweder Aufnahmeprüfung oder Probejahr. Ich habe mich ganz bewusst für das Probejahr entschieden, weil ich es grausam finde, junge Menschen unter den Stress zu stellen, innerhalb einer Woche oder gar eines Tages diese Weichenstellung bestehen zu müssen.

Wenn das Probejahr wegfiele und die Gymnasien schwächere Schüler behalten müssten, müssten sie nach und nach mehr Personal bekommen und die Sekundarschulen weniger. Wäre das der schleichende Prozess der Angleichung, den Sie meinen?

Mutlu: Was schadet es denn? Irgendwann braucht man dann vielleicht das Etikett „Gymnasium“ oder „Sekundarschule“ nicht mehr.

Zöllner: Aber was schadet es, wenn es Gymnasien gibt? Warum muss man das ändern? Beide Schulformen sind akzeptiert. Warum lassen wir es nicht so? Es läuft doch gut – hier der zwölfjährige Weg zum Abitur, dort der 13-jährige.

Mutlu: Was aber nicht heißt, dass die Strukturreform alle ihre Ziele erreicht hat. Beim Thema Unterrichtsqualität gibt es noch viel Luft nach oben. Oder das Thema Entkopplung von Herkunft und Bildungserfolg, all das sind noch riesige Baustellen. Da kann und muss Berlin noch mehr tun.

Verwandte Artikel